Unter dem Motto „Viel vor für Inklusion! Selbstbestimmt leben – ohne Barrieren“ findet am 05. Mai 2024 wieder der Europäische Protesttag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung statt. An diesem Tag setzen Verbände und Aktivist*innen ein Zeichen für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Denn auch 15 Jahre, nachdem Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ratifiziert hat, ist die Verwirklichung aller Menschenrechte für Menschen mit Behinderung noch nicht erreicht. Weiterhin werden Menschen durch ableistische Strukturen und Denkmuster systematisch benachteiligt. Zahlreiche Barrieren und ein System aus Sonderstrukturen verwehren oftmals eine inklusive, selbstbestimmte Teilhabe und verletzen die Menschenrechte von Menschen mit Behinderung. Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat Deutschland 2023 für seine mangelhafte Inklusionspolitik kritisiert und zahlreiche Empfehlungen zur besseren Umsetzung der UN-BRK ausgesprochen.
Erheblicher Verbesserungsbedarf besteht unter anderem im Bereich des Gewaltschutzes. Denn neben struktureller Gewalt sind Menschen mit Behinderung auch in erhöhtem Maß von direkten Gewaltformen wie sexuellem Missbrauch, körperlicher und psychischer Gewalt oder unrechtmäßigem Freiheitsentzug betroffen. Menschen mit Behinderung sind Schätzungen zufolge zwei- bis viermal so häufig wie der Bevölkerungsdurchschnitt von Gewalt betroffen. Eine vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend veröffentlichte Studie kommt 2013 zu dem Ergebnis, dass Frauen mit Behinderung zwei- bis dreimal so häufig Gewalt wie Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt erleben.[1] Die Gewalt findet häufig im sozialen Nahraum von Partnerschaft und Familie statt. Doch trotz des erhöhten Gewaltrisikos für Menschen mit Behinderung im Allgemeinen und Frauen/Mädchen mit Behinderung im Besonderen sind die wenigsten Gewaltschutzmaßnahmen barrierefrei. Betroffene Personen werden daher von bestehenden Schutz- und Unterstützungsangeboten oftmals ausgeschlossen und der Gewalt schutzlos ausgesetzt.[2] Auch in Sondereinrichtungen für Menschen mit Behinderung kommt es zu Gewalt gegen Menschen mit Behinderung durch andere Bewohner*innen und Personal. Zwar sind Einrichtungen seit 2021 verpflichtet, Gewaltschutzkonzepte zu entwickeln. Doch existieren keine flächendeckenden Gewaltschutzkonzepte nach einheitlichen Standards. Hierarchische Strukturen und ungleiche Machtverhältnisse wirken gewaltfördernd.[3]
In Artikel 16 der UN-BRK ist festgehalten, dass Vertragsstaaten alle Maßnahmen treffen, um Menschen mit Behinderungen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Wohnung vor Gewalt, einschließlich ihrer geschlechtsspezifischen Aspekte, zu schützen. Diesem Auftrag ist Deutschland bisher nicht ausreichend nachgekommen.
In Anlehnung an die Empfehlungen des UN-Fachausschusses fordert die Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit Häusliche Gewalt e.V. (BAG TäHG) die Entwicklung einer Gewaltschutzstrategie, die im Einklang zur UN-BRK wie zur Istanbul-Konvention steht und die spezifischen Anforderungen der betroffenen Personengruppen vollständig berücksichtigt! Das Hilfesystem muss mit ausreichenden Mitteln ausgestattet werden, um Angebote barrierefrei anbieten zu können. Dies betrifft auch Täterarbeit. Die BAG TäHG setzt sich für einen barrierefreien Zugang zu Täterprogrammen ein. Die Arbeit mit Tätern mit Beeinträchtigung wird in der BAG TäHG bereits fachlich bearbeitet. Für die praktische Umsetzung braucht es allerdings ausreichendes Personal und finanzielle Ressourcen.
Langfristig vor Gewalt zu schützen heißt, gewaltvolle Strukturen aufzubrechen und zu verändern. Die Überwindung von Ableismus und die Gewährleistung echter Teilhabe kann nur gelingen, wenn Menschen mit Behinderung stärker in Entscheidungsprozesse eingebunden und ernstgenommen werden: „Viel vor für Inklusion! Selbstbestimmt leben – ohne Barrieren“.
[1] Schröttle, Monika et al. (2013): Lebenssituationen und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.), Berlin.
[2] Puschke, Martina (2023): Umfassender Schutz vor Gewalt gegen Frauen mit Beeinträchtigungen, in: Katja von Auer, Christiane Micus-Loos, Stella Schäfer, Kathrin Schrader (Hrsg.), Intersektionalität und Gewalt. Verwundbarkeiten von marginalisierten Personen und Gruppen sichtbar machen, Münster: UNRAST, S. 161-185.
[3] Deutsches Institut für Menschenrechte (2022): Schutz vor Gewalt in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen – Handlungsempfehlungen für Politik und Praxis, Berlin.